Im letzten Teil unserer Studie über Josef hatten wir gesehen, wie Josef aus dem Gefängnis kam und zum zweiten Mann im Lande Ägypten aufstieg. Josef hielt auch weiterhin an seinem Gott, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs fest, wie man ersehen kann aus den Namen, die er seinen zwei Söhnen gab, die ihm während der Zeit der fetten Jahre geboren wurden.

Josefs Brüder kommen erstmals nach Ägypten

Die sieben fetten Jahre waren bald vorbei, und es stellte sich eine große Hungersnot ein, wie Josef es angekündigt hatte.

1.Mose 41,57:
Und alle Welt kam nach Ägypten, um bei Josef zu kaufen; denn der Hunger war groß in allen Landen.

In diesen Dingen sehen wir, wie sich sogenannte natürliche Dinge zusammenfügen und daraus eine Situation entsteht. Dies ist hier allerdings kein Zufall, sondern nach und nach entfaltet sich etwas, was Gott in wahrlich großer Weise bewirkte, und was auch weit über das hinausgeht, was der menschliche Verstand sich erdenken könnte.

1.Mose 42,1 und 2:
Als aber Jakob sah, daß Getreide in Ägypten zu haben war, sprach er zu seinen Söhnen: Was seht ihr euch lange an?
Siehe, ich höre, es sei in Ägypten Getreide zu haben; zieht hinab und kauft uns Getreide, daß wir leben und nicht sterben.

Jakobs Söhne, ihrem Charakter entsprechend, kamen mit der Situation nicht gut zurecht, sie hatten keine rechte Idee, was sie tun konnten oder sollten. Jakob wies sie auf Ägypten hin, denn dort gab es Getreide. Jakob hatte einen etwas anderen Charakter, und er ergriff Maßnahmen, um mit seiner Familie am Leben zu bleiben.

1.Mose 42,3:
Da zogen hinab zehn Brüder Josefs, um in Ägypten Getreide zu kaufen.

Bemerkenswert, genau die zehn Brüder, die zuvor einen anderen nach Ägypten verkauft hatten, ziehen nun selbst nach Ägypten.

1.Mose 42,4:
Aber den Benjamin, Josefs Bruder, ließ Jakob nicht mit seinen Brüdern ziehen; denn er sprach: Es könnte ihm ein Unfall begegnen.

Benjamin wird hier "Josefs Bruder" genannt, weil er der Vollbruder Josefs war. Jakob ließ Benjamin nicht mitziehen, denn er war besorgt um ihn. Nach dem Verlust Josefs, hatte Benjamin, als nunmehr einziger Sohn seiner geliebten Frau Rahel, anscheinend die Stelle des Lieblingssohnes eingenommen. Womöglich erinnerte sich Jakob an die Zeit, als die Zehn einst unterwegs waren und Josef, den er geschickt hatte, um nach ihnen zu sehen, nicht mehr zurückkam.

1.Mose 42,5:
So kamen die Söhne Israels, Getreide zu kaufen, samt andern, die mit ihnen zogen; denn es war auch im Lande Kanaan Hungersnot.

Was in Oberägypten und Äthiopien der Anlaß war, daß nicht genug Regen fiel, weshalb dann der Nil nicht genug Wasser hatte und so in Ägypten eine Hungersnot ausbrach, das hatte sogar Auswirkungen auf andere benachbarte Länder, die litten alle ebenfalls Not. Der einzige Ausweg für sie war Ägypten, da gab es trotz Hungersnot noch Getreide. Warum es gerade da noch Getreide gab, wußten sie natürlich nicht unbedingt.

1.Mose 42,6-8:
Aber Josef war der Regent im Lande und verkaufte Getreide allem Volk im Lande. Als nun seine Brüder kamen, fielen sie vor ihm nieder zur Erde auf ihr Antlitz.
Und er sah sie an und erkannte sie, aber er stellte sich fremd gegen sie und redete hart mit ihnen und sprach zu ihnen: Woher kommt ihr? Sie sprachen: Aus dem Lande Kanaan, Getreide zu kaufen.
Aber wiewohl er sie erkannte, erkannten sie ihn doch nicht.

Die zehn Brüder hatten sich wohl nicht viel verändert in zwanzig Jahren, aber viel hatte sich geändert im Leben des siebzehnjährigen Knaben, dem sie einst den schönen Rock ausgezogen und dann verkauft hatten. Daß der jetzt in einem noch viel bedeutungsvolleren Gewand als Regent vor ihnen stehen könnte, fiel ihnen nicht im Traum ein und sie konnten es auch kaum vermuten. Der Knabe hatte sich gewaltig verändert, und er sah überhaupt nicht wie ein Hebräer aus - kein Bart, völlig andere Kleidung, usw. In zwanzig Jahren verändert man sich schon sehr, und wenn man andererseits zwanzig Jahre bemüht ist, seine böse Schandtat zu vergessen, wird man auch einiges unternommen haben, jenes Gesicht von damals zu vergessen, daß da so bettelnd vor einem stand. So waren die Zehn nun wieder bei Josef, und "fielen vor ihm nieder ..."

1.Mose 42,9:
Und Josef dachte an die Träume, die er von ihnen geträumt hatte, und sprach zu ihnen: Ihr seid Kundschafter und seid gekommen zu sehen, wo das Land offen ist.

"Und Josef dachte an die Träume" - wahrlich aufschlußreich! Wenn man an die Träume von damals denkt, die der junge Knabe in seinem herrschenden Ton erzählt hatte, könnte man schnell eine ganz andere Idee davon haben, was diese Bilder bedeuteten, etwa "Herrschen und Dienen". Daran hatten die zehn Brüder vielleicht gedacht und das hatten sie so verabscheut und wollten dem Träumer und seinen Träumen ein Ende machen. Hinterher werden sie noch froh sein, daß sie den Träumer am Leben ließen, denn die Träume wiesen auf etwas ganz anderes hin, wie wir hier erkennen. Dieses Niederfallen war ganz anderer Art, als sie damals gedacht hatten. Wer hätte gedacht, daß es in den Träumen Josefs um Leben und Tod auf der einen Seite gehen würde und der Träumer durch Gottes Fügung auf der anderen Seite stehen würde, um ihnen ihr Leben zu erhalten?! Daran hatte wohl keiner gedacht.

Gott hatte von langer Hand geplant, und was er in Gestalt des Traums offenbarte erfuhr nun langsam seine Erfüllung, wenn auch in anderer Weise, als manch einer erwartet hätte, der den Traum gehört hatte. Auch Josef wurden nun einige Zusammenhänge klar, und dies zeigte ihm sicher an, daß Gottes Hand hier am Werke war. Als Josef die Träume des Pharao deutete, und was er als Deutung von Gott erhielt, beinhaltete nichts von anderen Ländern, sondern handelte lediglich von Ägypten. Das Augenmerk war nur auf Ägypten gerichtet. Hier nun, im ersten Jahr der Hungersnot, tauchen die Brüder Josefs aus Kanaan auf und fallen vor ihm nieder, was Josef erkennen läßt, was es mit den damaligen Träumen auf sich hatte.

Josefs Umgang mit seinen Brüdern

Wichtig ist zu erkennen, wie Josef mit ihnen umging. In seinem harten Ton darf man keine persönliche Rache oder besondere Härte sehen, weil er sich an die ihm damals zugefügten Gefühlsschmerzen erinnerte, und er ihnen jetzt ordentlich zurückzahlen wollte. Nein, nein! Eine andere Absicht liegt sich hinter seinem Verhalten.

Josef stand vor der Frage, was zu tun sei. Ein erstes Anliegen war sicher, sie zunächst von den andern Leuten zu trennen, um etwas weiter unternehmen zu können; dann wollte er einiges mehr über seine Familie in Kanaan erfahren. Wie konnte man das erreichen, ohne sie argwöhnisch zu machen? Josef hatte sofort eine schlaue Idee, die ihm auf einen Schlag alle Möglichkeiten eröffnete.

1.Mose 42,9:
... Ihr seid Kundschafter und seid gekommen zu sehen, wo das Land offen ist.

Das war natürlich sehr plausibel: Ägypten war gerade in Richtung Kanaan offen, und es gab in Ägypten jede Menge Getreide, und die Vermutung und der Gedanke an Kundschafter lag auf der Hand. Mit solch einer Anklage hatte er sie schnell von all den anderen Leuten getrennt, und sie konnten das natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Ihr bestes Argument, um solch einen Vorwurf zu widerlegen, war die Tatsache, daß sie alle Söhne aus einer Familie waren, denn keiner, der ein fremdes Land auskundschaften will, würde alle seine Söhne hinschicken und riskieren, sie auf einen Schlag zu verlieren.

1.Mose 42,10-12:
Sie antworteten ihm: Nein, mein Herr! Deine Knechte sind gekommen, Getreide zu kaufen.
Wir sind alle eines Mannes Söhne
[sie bringen ihr bestes Argument gleich vor]; wir sind redlich, und deine Knechte sind nie Kundschafter gewesen.
Er sprach zu ihnen: Nein, sondern ihr seid gekommen zu sehen, wo das Land offen ist.

Josef geht aber noch nicht darauf ein, denn er hat noch nicht genügend erfahren.

1.Mose 42,13:
Sie antworteten ihm: Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder
[hier erwähnen sie freiwillig noch weitere Einzelheiten], eines Mannes Söhne im Lande Kanaan, und der jüngste ist noch bei unserm Vater, aber der eine ist nicht mehr vorhanden.

Ihre Worte zeigten Josef auch, wo ihr Herz bislang noch war. Selbst nach zwanzig Jahren war keiner von ihnen auf den Gedanken gekommen, die Tat von damals zu bereuen. Sie hatten ihr Bestes getan, ihn wirklich vergessen zu machen: "... aber der eine ist nicht mehr vorhanden."

1.Mose 42,14-17:
Josef sprach zu ihnen: Es ist, wie ich euch gesagt habe: Kundschafter seid ihr.
Daran will ich euch prüfen: So wahr der Pharao lebt: ihr sollt nicht von hier wegkommen, es komme denn her euer jüngster Bruder!
Sendet einen von euch hin, der euren Bruder hole, ihr aber sollt gefangen sein. Daran will ich prüfen eure Rede, ob ihr mit Wahrheit umgeht. Andernfalls - so wahr der Pharao lebt! - seid ihr Kundschafter!
Und er ließ sie zusammen in Gewahrsam legen drei Tage lang.

Josefs Idee brachte ihn zu einem ersten Ziel, denn seine Brüder erzählten ihm, dem Fremden, wie es um ihre Familie bestellt war, und als Folge ihrer "Redseligkeit" mußten sie auch noch den Jüngsten herbeischaffen. Was in ihren Köpfen wohl vorging, kann man sich vorstellen. Als nächstes erfuhren sie am eigenen Leibe, wie es ist, wenn man eingesperrt ist. Das gab ihnen Zeit zum Nachdenken - drei Tage lang hatten sie Zeit, sich zu überlegen, wen sie schicken wollten, um den jüngsten Bruder herbeizuholen. Diese Entwicklung dürfte ihnen einen gewaltigen Schrecken eingejagt haben, denn sie waren doch nur gekommen als redliche Leute, um Getreide zu kaufen, und nun steckten sie zu Unrecht im Gefängnis.

Dann gab es aber eine interessante Wendung in der Geschichte.

1.Mose 42,18-20:
Am dritten Tage aber sprach er zu ihnen: Wollt ihr leben, so tut nun dies, denn ich fürchte Gott:
Seid ihr redlich
[wie ihr behauptet habt], so laßt einen eurer Brüder gebunden liegen in eurem Gefängnis; ihr aber zieht hin und bringt heim, was ihr gekauft habt für den Hunger.
Und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, so will ich euren Worten glauben, so daß ihr nicht sterben müßt. Und sie gingen darauf ein.

Das dürfte ebenfalls einige Gedanken bei ihnen angeregt haben. Nachdem sie sich womöglich durchgerungen hatten, wen sie denn nun unverrichteter Dinge nach Hause schicken wollten, um den jüngsten Bruder herzuholen, brachte dieser Ägypter eine andere Idee vor und redete gar von: "Ich fürchte Gott." Dann gab er sich auch noch damit zufrieden, einen gefangen zu behalten, die anderen neun gehen und sogar Getreide kaufen zu lassen. Solches Verhalten wirkte ein wenig wie ein Schlag mit dem Holzhammer auf ihr Gewissen. Sie waren so redlich gewesen - und doch so unbarmherzig, so hart gegenüber ihrem Bruder damals. Hier redete nun der zweite Mann Ägyptens, ein Fremder, davon, Gott zu fürchten, und er ließ seinen Worten sogleich Barmherzigkeit folgen!

1.Mose 42,21 und 22:
Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns.
Ruben antwortete ihnen und sprach: Sagte ich's euch nicht, als ich sprach: Versündigt euch nicht an dem Knaben, doch ihr wolltet nicht hören? Nun wird sein Blut gefordert.

Man erkennt, daß langsam etwas in ihren Herzen in Gang gekommen war, und sie merkten wohl, daß hier nicht alles normal zuging. Sie erinnerten sich an damals, und vermuteten nun, daß ihre Schuld sie nun heimsuchte. Ruben erinnerte sie an seine Worte, und sah in dieser Entwicklung nun Gottes Rache.

1.Mose 42,23:
Sie wußten aber nicht, daß es Josef verstand; denn er redete mit ihnen durch einen Dolmetscher.

Was Josef zuvor mit ihnen geredet hatte, geschah durch einen Dolmetscher. Nun hörte er mit eigenen Ohren, daß sein Vorgehen langsam erste Früchte zu tragen schien.

1.Mose 42,24:
Und er wandte sich von ihnen und weinte. ...

Dies zeigt uns, daß Josef keine bösen Absichten gegen sie hegte, sondern Gottes Plan verfolgte. Fast hätte er sich verraten, daher ging er schnell weg, um sich nicht preiszugeben.

1.Mose 42,24:
... Als er sich nun wieder zu ihnen wandte und mit ihnen redete, nahm er aus ihrer Mitte Simeon und ließ ihn binden vor ihren Augen.

Simeon war der Zweitälteste, und den Ältesten, Ruben, ließ Josef wohl nicht binden, weil dieser sich damals für ihn eingesetzt hatte. Simeon war sehr forsch und gewalttätig, wie seine und Levis Rachetat für ihre Schwester Dina an den Leuten von Sichem gezeigt hatte. Ruben, als Ältester, wäre wohl die rechte Wahl gewesen, und daß der Ägypter nun Simeon auswählte, dürfte ihnen auch zu denken gegeben haben.

Die Rückkehr der Brüder zu Jakob

1.Mose 42,25 und 26:
Und Josef gab Befehl, ihre Säcke mit Getreide zu füllen und ihnen ihr Geld wiederzugeben, einem jeden in seinen Sack, dazu auch Zehrung auf den Weg; und so tat man ihnen.
Und sie luden ihre Ware auf ihre Esel und zogen von dannen.

Von diesen Dingen hatten sie natürlich keine Ahnung. Sie hatten Getreide gekauft, ihr Geld abgeliefert, ihre Säcke waren gefüllt worden, und endlich konnten sie sich, wenn auch ohne Simeon auf den Weg zurück nach Kanaan machen.

1.Mose 42,27 und 28:
Als aber einer seinen Sack auftat, daß er seinem Esel Futter gäbe in der Herberge, sah er sein Geld, das oben im Sack lag,
und sprach zu seinen Brüdern: Mein Geld ist wieder da, siehe, in meinem Sack ist es! Da entfiel ihnen ihr Herz, und sie blickten einander erschrocken an und sprachen: Warum hat Gott uns das angetan?

Die Brüder wurden sanfter. Was Josef als einen kleinen Segen hatte zukommen lassen, hatte natürlich einen ganz anderen Effekt auf sie. Sie waren einigermaßen beruhigt losgezogen, dankbar, daß sie so davongekommen waren und nun den Verdacht, Kundschafter zu sein, entkräften zu können. Jetzt kam aber noch viel Schlimmeres hinzu - jetzt standen sie wohl nicht nur im Verdacht Kundschafter, sondern auch Diebe zu sein. Ihr Schreck ließ ihnen ihr Herz entfallen. Wichtig ist aber, daß ihre Gedanken mittlerweile ein wenig mehr von sich selbst weg und auf Gott hin gerichtet waren. Sie sahen in all dem ein strafendes Handeln Gottes.

1.Mose 42,29-34:
Als sie nun heimkamen zu ihrem Vater Jakob ins Land Kanaan, sagten sie ihm alles, was ihnen begegnet war, und sprachen:
Der Mann, der im Lande Herr ist, redete hart mit uns und hielt uns für Kundschafter.
Und wir antworteten ihm: Wir sind redlich und nie Kundschafter gewesen,
sondern zwölf Brüder, unseres Vaters Söhne; einer ist nicht mehr vorhanden, und der jüngste ist noch bei unserm Vater im Lande Kanaan.
Da sprach der Herr im Lande zu uns: Daran will ich merken, ob ihr redlich seid: einen eurer Brüder laßt bei mir und nehmt für euer Haus, wieviel ihr bedürft, und zieht hin
und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, so merke ich, daß ihr nicht Kundschafter, sondern redlich seid; dann will ich euch auch euren Bruder wiedergeben, und ihr mögt im Lande Handel treiben.

Sie übertrieben ein wenig, denn von "im Lande Handel treiben" hatte Josef nichts gesagt. Sie waren nun zu Jakob nach Hause gekommen, und wieder fehlte einer. Aber noch viel schlimmer war ein anderer Umstand: Um überhaupt wieder in Ägypten auftauchen zu dürfen, war es notwendig, den jüngsten Bruder mitzubringen!

1.Mose 42,35:
Und als sie die Säcke ausschütteten, fand ein jeder seinen Beutel Geld in seinem Sack. Und als sie sahen, daß es die Beutel mit ihrem Geld waren, erschraken sie samt ihrem Vater.

Mittlerweile dürfte ihnen das alles wie ein tiefgründiger Plan vorgekommen sein. Ein solcher Umstand, das mag ja Zufall sein. Daß einer sein Geld im Sack hat, das mag ja ein Versehen sein. Aber daß alle ihr Geld wieder in ihrem Sack hatten, und auch noch ein jeder sein Geld, das ließ auf einen tiefgründigen Plan hinter dem Ganzen schließen.

1.Mose 42,36 und 37:
Da sprach Jakob, ihr Vater, zu ihnen: Ihr beraubt mich meiner Kinder! Josef ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, Benjamin wollt ihr auch wegnehmen; es geht alles über mich.
Ruben antwortete seinem Vater und sprach: Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe, so töte meine zwei Söhne. ...

Solch ein Vorschlag war natürlich Unsinn, aber es zeigte, daß all das den Ruben nicht kalt gelassen hatte wie die anderen.

1.Mose 42,37 und 38:
... Gib ihn nur in meine Hand
[vertraue ihn mir nur an], ich will ihn dir wiederbringen.
Er sprach: Mein Sohn soll nicht mit euch hinabziehen; denn sein Bruder
[Josef] ist tot, und er ist allein übriggeblieben. Wenn ihm ein Unfall auf dem Wege begegnete, den ihr reiset, würdet ihr meine grauen Haare mit Herzeleid hinunter zu den Toten bringen.

Das war ein wenig ähnlich wie damals, als sie mit der grauenvollen Botschaft über Josef zu Jakob kamen. Jakob war untröstlich gewesen und das klang auch hier wieder an. Der mittlerweile alt gewordene Jakob würde natürlich den Verlust seines Lieblingssohnes nicht mehr überleben.

Josefs Plan war wirklich erstaunlich. Er wollte Benjamin nach Ägypten bringen, um so die Gelegenheit zu haben, diesen seinen Bruder, der jetzt alleine übrig war, vor ihnen in eine ähnliche Situation zu bringen, wie es damals bei ihm gewesen war, um herauszufinden, wie ihre Gesinnung sein würde. Würden sie den auch im Stich lassen und beiseite werfen, wie sie es damals mit ihm getan hatten? Josef wollte sicherstellen, daß seine Brüder einen echten Herzenswandel durchgemacht hatten, bevor der nächste Schritt eingeleitet werden konnte, sie alle nach Ägypten zu holen, um dort zusammen weiter zu leben. Josef hatte wohl erkannt, daß er nicht für immer von seiner Familie getrennt sein sollte, aber andererseits auch, daß nicht er nach Kanaan zurückgehen sollte, sondern daß sie nach Ägypten kommen sollten.

Eine ideale Möglichkeit, um sie auf die Probe zu stellen, bot Benjamin. Sein alt gewordener Vater hing natürlich ungemein an Benjamin, und manche fragen sich, wie Josef so hart sein und so etwas verlangen konnte von seinem Vater Jakob. Nun, er hatte ja noch Simeon in seiner Hand und hätte ihn jederzeit nach Hause schicken können, um ihn berichten zu lassen. Andererseits ist auch Jakob nun ein großer Mann geworden bzgl. Glauben und Vertrauen auf Gott. Jakob vertraute dann wirklich Gott und stellte die Sache Gott anheim.

Erneute Sendung der Brüder nach Ägypten

Es dauerte nicht lange, bis das Getreide aufgezehrt war und es notwendig wurde, erneut nach Ägypten zu reisen.

1.Mose 43,1-5:
Die Hungersnot aber drückte das Land.
Und als verzehrt war, was sie an Getreide aus Ägypten gebracht hatten, sprach ihr Vater zu ihnen: Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide.
Da antwortete ihm Juda und sprach: Der Mann schärfte uns das hart ein und sprach: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, es sei denn euer Bruder mit euch.
Willst du nun unsern Bruder mit uns senden, so wollen wir hinabziehen und dir zu essen kaufen.
Willst du ihn aber nicht senden, so ziehen wir nicht hinab. Denn der Mann hat zu uns gesagt: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, euer Bruder sei denn mit euch.

Josef hatte offensichtlich Eindruck auf sie gemacht und ihnen deutlich zu verstehen gegeben, was Sache war. Juda machte sich nun zum Sprecher der Brüder gegenüber seinem Vater Jakob.

1. Mose 43,6:
Israel sprach: Warum habt ihr so übel an mir getan, daß ihr dem Mann sagtet, daß ihr noch einen Bruder habt?

Ach wie menschlich dies eigentlich ist. Jakob schien einiges zu wissen über seine Söhne, und er machte ihnen Vorwürfe über ihre Unvorsichtigkeit und Mangel an Weisheit.

1.Mose 43,7:
Sie antworteten: Der Mann forschte so genau nach uns und unserer Verwandtschaft und sprach: Lebt euer Vater noch? Habt ihr auch noch einen Bruder? Da antworteten wir ihm, wie er uns fragte. Wie konnten wir wissen, daß er sagen würde: Bringt euren Bruder mit herab?

Das hatten sie natürlich nicht wissen können! Sie wollten nach Hause, wenn irgend möglich mit Getreide, denn ansonsten würden alle verhungern. Sie hatten nichts zu verlieren, wenn sie dem Fremden solche Auskunft gaben. Sie hatten doch nur Getreide kaufen wollen und nichts anderes vorgehabt. Sie hatten keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten und was sich tatsächlich zutrug.

1.Mose 43,8 und 9:
Da sprach Juda zu Israel, seinem Vater: Laß den Knaben mit mir ziehen, daß wir uns aufmachen und reisen und leben und nicht sterben, wir und du und unsere Kinder.
Ich will Bürge für ihn sein; von meinen Händen sollst du ihn fordern. Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe und vor deine Augen stelle, so will ich mein Leben lang die Schuld tragen.

Das war schon ein gewaltiger Unterschied zu Rubens Worten. Juda war willig, selbst Bürge für seinen kleinen Bruder zu sein, denn ohne Benjamin gab es keinen Weg nach Ägypten. Juda hatte zuvor schon im Lande Kanaan eine Lektion erhalten in der Sache mit seiner Schwiegertochter, und er hatte anscheinend ein etwas anderes Denken als einige seiner Brüder.

1.Mose 43,10-12:
Denn wenn wir nicht gezögert hätten, wären wir wohl schon zweimal wiedergekommen.
Da sprach Israel, ihr Vater, zu ihnen: Wenn es denn so ist, wohlan so tut's und nehmt von des Landes besten Früchten in eure Säcke und bringt dem Manne Geschenke hinab, ein wenig Balsam und Honig, Harz und Myrrhe, Nüsse und Mandeln.
Nehmt auch anderes Geld mit euch, und das Geld, das ihr obenauf in euren Säcken wiederbekommen habt, bringt auch wieder hin. Vielleicht ist ein Irrtum da geschehen.

Israels Verhalten ist bemerkenswert. Es war Hungersnot in Kanaan und es gab nicht viel, aber dennoch ließ er Geschenke einpacken und mitnehmen. Balsam und Honig, Harz und Myrrhe waren Duftstoffe und Sachen, die in Ägypten u.a. für Kosmetik benutzt wurden. Außerdem ließ er das frühere Geld mitnehmen, um jegliche Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen.

1.Mose 43,13 und 14:
Dazu nehmt euren Bruder, macht euch auf und geht wieder zu dem Manne.
Aber der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, daß er mit euch ziehen lasse euren andern Bruder
[Simeon] und Benjamin. Ich aber muß sein wie einer, der seiner Kinder ganz und gar beraubt ist.

Israel schickte sie nicht nur einfach los, nachdem alle menschlichen Mittel ausgeschöpft waren und Vorsorge getroffen war. Was ihm am meisten am Herz lag, war der allmächtige Gott. Er ließ sie ziehen im Vertrauen auf den allmächtigen Gott. Der würde auch in dieser Situation weiterhelfen können. Das war Israel klar geworden, als er einst ganz allein eine Nacht verbracht hatte am Fluß Jabbok. Mittlerweile hatte er einiges in seinem Herzen bewegt, und so ließ er sie ziehen, nachdem er sie dem allmächtigen Gott anbefohlen hatte.

1. Mose 43,15-17:
Da nahmen sie diese Geschenke und das doppelte Geld mit sich, dazu Benjamin, machten sich auf, zogen nach Ägypten und traten vor Josef.
Als Josef sie sah mit Benjamin, sprach er zu seinem Haushalter: Führe diese Männer ins Haus und schlachte und richte zu, denn sie sollen zu Mittag mit mir essen.
Und der Mann tat, wie ihm Josef gesagt hatte, und führte die Männer in Josefs Haus.

Josefs Handlung hatte wohl auch einen ganz menschlichen Grund - er wollte sich nicht verraten angesichts der Möglichkeit, daß ihn nach 22 Jahren, in denen er seinen kleinen Bruder nicht gesehen hatte, vielleicht seine Gefühle überwältigen könnten. Wir wissen, daß er sogar später einige Mühe hatte, sich nicht zu verraten, so daß erreicht werden konnte, was Gottes Ende in der Sache sein sollte. Immerhin war Benjamin nun Anfang bis Mitte zwanzig, nur wenig älter als Josef damals, und Josef hatte ihn damals als kleines Kind zum letzten Mal zu Hause gesehen. So ließ er denn ein Festmahl für seine Brüder arrangieren.

1.Mose 43,18:
Sie fürchteten sich aber, weil sie in Josefs Haus geführt wurden, und sprachen: Wir sind hereingeführt um des Geldes willen, das wir in unsern Säcken das vorige Mal wiedergefunden haben; man will auf uns eindringen und über uns herfallen und uns zu Sklaven machen und uns die Esel nehmen.

Die Brüder hatten wohl gehofft, diese leidige Sache schnellstens hinter sich zu bringen. Immerhin hatten sie ihren jüngsten Bruder dabei, hatten auch das doppelte Geld dabei, und sie rechneten sicherlich damit, den Irrtum sofort aufklären zu können, neues Getreide zu kaufen und sich umgehend auf den Heimweg zu machen. Doch nun kam erneut etwas dazwischen - eine "Einladung" in des Ägypters Haus.

Die Brüder waren schnell bei der Hand mit einer logischen Erklärung für das, was ihnen geschah. Und wie es vielleicht typisch menschlich ist, vermuteten sie nichts Gutes. Dies ist ein erstaunliches Beispiel für das, was Leute denken können - und das völlig unberechtigt. Hatte Josef solches vor? Nein! Er wollte ein Mahl mit ihnen essen! Sie hatten große Befürchtungen, die soweit gingen, daß sie meinten, man würde ihnen auch ihre Esel wegnehmen. Diesmal hatten sie schnell eine Idee, wie man dem vorbeugen und ein solches Übel abwenden konnte.

1.Mose 43,19-22:
Darum traten sie zu Josefs Haushalter und redeten mit ihm vor der Haustür
und sprachen: Mein Herr, wir sind das vorige Mal herabgezogen, Getreide zu kaufen,
und als wir in die Herberge kamen und unsere Säcke auftaten, siehe, da war eines jeden Geld oben in seinem Sack mit vollem Gewicht
[Geld wurde aufgewogen]. Darum haben wir's wieder mit uns gebracht,
haben auch anderes Geld mit uns herabgebracht, Getreide zu kaufen. Wir wissen aber nicht, wer uns unser Geld in unsere Säcke gesteckt hat.

Sie beteuerten ihre Unschuld und boten an, den offensichtlichen Irrtum sofort zu regeln.

1.Mose 43,23:
Er aber sprach: Seid guten Mutes
[Friede sei mit euch!], fürchtet euch nicht! Euer Gott und eures Vaters Gott hat euch einen Schatz gegeben in eure Säcke. Euer Geld habe ich erhalten. Und er führte Simeon zu ihnen heraus

Sie waren nun sicher ein wenig beruhigt, da der Haushalter ihnen bestätigte, daß mit dem Geld alles in Ordnung war, und er sogleich auch ihren Bruder Simeon wieder zu ihnen brachte. Solches hielten sie eher für ein gutes Zeichen.

1.Mose 43,24:
und brachte sie in Josefs Haus, gab ihnen Wasser, daß sie ihre Füße wuschen, und gab ihren Eseln Futter.

Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich absolut nicht, denn sie wurden wie ehrbare Gäste behandelt, und selbst die Esel wurden nicht weggenommen, sondern gar gefüttert.

1.Mose 43,25 und 26:
Sie aber richteten das Geschenk zu, bis Josef mittags käme; denn sie hatten gehört, daß sie dort essen sollten.
Als nun Josef ins Haus trat, brachten sie ihm das Geschenk ins Haus, das sie mitgebracht hatten, und fielen vor ihm nieder zur Erde.

Nachdem sie etwas beruhigt waren, erwiesen sie sich nun als gute Gäste und richteten ihr Geschenk für den Regenten Ägyptens her. Als er schließlich eintraf, erfüllte sich ein weiteres Mal, was Josef viele Jahre zuvor geträumt hatte - seine Brüder verneigten sich vor ihm zu Boden.

1.Mose 43,27 und 28:
Er aber grüßte sie freundlich und sprach: Geht es eurem alten Vater gut, von dem ihr mir sagtet? Lebt er noch?
Sie antworteten: Es geht deinem Knechte, unserm Vater, gut, und er lebt noch. Und sie verneigten sich und fielen vor ihm nieder.

Es ist bemerkenswert, daß hier dieselben Worte benutzt werden wie damals in dem Traum: "Sie verneigten sich und fielen vor ihm nieder." Ohne daß sie es ahnten, ging Josefs Traum in Erfüllung. Ein drittes Mal wird berichtet, daß sie sich verneigten und vor ihm niederfielen.

1.Mose 43,29 und 30:
Und er hob seine Augen auf und sah seinen Bruder Benjamin, seiner Mutter Sohn, und sprach: Ist das euer jüngster Bruder, von dem ihr mir sagtet? Und sprach weiter: Gott sei dir gnädig, mein Sohn!
Und Josef eilte hinaus; denn sein Herz entbrannte ihm gegen seinen Bruder, und er suchte, wo er weinen könnte, und ging in seine Kammer und weinte daselbst.

Hier wird deutlich, wie sehr Josef rang, sich nicht zu verraten, denn noch gab es eine entscheidende Sache in die Wege zu leiten, bevor er offenbaren konnte, wer er wirklich war.

1.Mose 43,31 und 32:
Und als er sein Angesicht gewaschen hatte, ging er heraus und hielt an sich und sprach: Legt die Speisen auf!
Und man trug ihm besonders auf und jenen auch besonders und den Ägyptern, die mit ihm aßen, auch besonders. Denn die Ägypter dürfen nicht essen mit den Hebräern; denn es ist ein Greuel für sie.

Josef mußte "an sich halten", um seine Identität nicht preiszugeben. Dieses Mahl wurde nach ägyptischer Sitte arrangiert, weshalb Josef nicht mit seinen Brüdern am gleichen Tisch saß. Dennoch erlebten die Brüder nun eine weitere und äußerst verwunderliche Überraschung.

1.Mose 43,33:
Und man setzte sie ihm gegenüber, den Erstgeborenen nach seiner Erstgeburt und den Jüngsten nach seiner Jugend. Darüber verwunderten sie sich untereinander.

Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand unwissentlich elf Brüder entsprechend ihrem Alter richtig anordnet, ist so gering, daß man es als unmöglich bezeichnen kann. Und doch wies der Haushalter ihnen ihre Plätze entsprechend ihrem Alter zu. Sie verwunderten sich sehr darüber und waren wohl sehr erstaunt, daß es im Hause dieses Ägypters genau so war wie bei ihnen zu Hause. Wie konnte so etwas sein?

1.Mose 43,34:
Und man trug ihnen Essen auf von seinem Tisch, aber Benjamin bekam fünfmal mehr als die andern. ...

Des Ägypters Gastfreundschaft mit angeblichen Kundschaftern ging ziemlich weit, da er ihnen nun gar von seinem Tisch auftragen ließ, wobei es noch eine weitere ungeheure Überraschung gab: Von zu Hause waren sie vielleicht an doppelte Portionen für den Lieblingssohn gewöhnt, aber hier erhielt der Jüngste gleich fünffach!

Josef wußte aber schon, wie man solche Situationen handhabt, ohne daß zuviel Neugierde geweckt wurde.

1.Mose 43,34:
... Und sie tranken und wurden fröhlich mit ihm.

Sie wurden nicht betrunken, sondern hatten eine frohe Zeit beim gemeinsamen Essen! Die sicher angespannte Atmosphäre lockerte sich ein bißchen. Die Brüder konnten sich endlich ein wenig beruhigen ob der merkwürdigen Dinge, die hier geschehen waren.

1.Mose 44,1 und 2:
Und Josef befahl seinem Haushalter und sprach: Fülle den Männern ihre Säcke mit Getreide, soviel sie fortbringen, und lege jedem sein Geld oben in seinen Sack.
Und meinen silbernen Becher lege oben in des Jüngsten Sack mit dem Gelde für das Getreide. Der tat, wie ihm Josef gesagt hatte.

Der "silberne Becher" war vielleicht eher eine der in Ägypten bei Personen von hohem Ansehen verbreiteten silbernen Schalen.

1.Mose 44,3:
Am Morgen, als es licht ward, ließen sie die Männer ziehen mit ihren Eseln.

Bei Sonnenaufgang machten sich die Brüder nun endlich auf den Weg zurück. Selbst ihre Esel waren dabei und sie hatten Getreide gekauft, und auch ihr Bruder Simeon war wieder dabei. Sie hatten auf ihrem Wege nach Ägypten wohl mehr Schrecken und Befürchtungen in ihren Herzen gehabt als Josef damals, als er an die Karawane verkauft worden war. Die riesige Anspannung angesichts der schwierigen Lage, und insbesondere in Anbetracht dessen, daß ihr jüngster Bruder Benjamin bei ihnen war und man nicht wissen konnte, was der Ägypter womöglich mit ihm vorhatte, die hatte sich nun gelegt. "Gott sei gedankt! - Wir sind alle auf dem Wege nach Hause. Ägypten liegt nun endlich hinter uns ...", ähnliche Gedanken hatten sie vermutlich alle an jenem Morgen.

1.Mose 44,4 und 5:
Als sie aber zur Stadt hinaus waren und noch nicht weit gekommen, sprach Josef zu seinem Haushalter: Auf, jage den Männern nach, und wenn du sie ereilst, so sprich zu ihnen: Warum habt ihr Gutes mit Bösem vergolten?
Warum habt ihr den silbernen Becher gestohlen? Ist das nicht der, aus dem mein Herr trinkt und aus dem er wahrsagt? Ihr habt übel getan.

Vers 5 bedeutet nicht, daß Josef aus einem Becher wahrsagte. Diese Worte waren lediglich Teil dieser Geschichte, und es mag in Ägypten so gewesen sein, daß Priester und hohe Magier und andere einen silbernen Becher hatten, den sie zum Wahrsagen benutzten. Es könnte auch sein, daß diese Aussage wie folgt zu verstehen ist: "Das ist der Becher, aus dem mein Herr trinkt; und in dem Verschwinden dieses Bechers wird er eine üble Sache sehen." Auf jeden Fall sollte der Haushalter ihnen vorwerfen, sie hätten Gutes mit Bösem vergolten - eine weitere ungeheuerliche Anschuldigung.

1. Mose 44,6-8:
Und als er sie ereilte, redete er mit ihnen diese Worte.
Sie antworteten ihm: Warum redet mein Herr solche Worte? Es sei ferne von deinen Knechten, solches zu tun.
Siehe, das Geld, das wir fanden oben in unseren Säcken, haben wir wiedergebracht zu dir aus dem Lande Kanaan. Wie sollten wir da aus deines Herrn Hause Silber oder Gold gestohlen haben?

Die Brüder wiesen jegliche Schuld von sich und erläuterten, wie absurd und schwachsinnig eine solche Tat in ihrem Falle sein würde.

1.Mose 44,9:
Bei wem er gefunden wird unter deinen Knechten, der sei des Todes; dazu wollen auch wir meines Herrn Sklaven sein.

Angesichts ihrer absoluten Gewißheit, unschuldig zu sein, sind sie sehr flott mit ihrer Zunge. Da kann man vielleicht auch eine Lektion lernen, denn manches Mal sagt man etwas sehr schnell und wäre besser beraten gewesen, seinen Mund zu halten. Sie reden von "des Todes sein" und von "Sklaven sein" - solche Worte sind leicht gesagt, aber wehe, es kommt anders als man denkt.

1.Mose 44,10:
Er sprach: Ja, es sei, wie ihr geredet habt. Bei wem er gefunden wird, der sei mein Sklave, ihr aber sollt frei sein.

Der Haushalter gab sich großzügig. Er mindert die selbst auferlegte Strafe, falls sich ihre Schuld herausstellen sollte.

1.Mose 44,11:
Und sie legten eilends ein jeder seinen Sack ab auf die Erde, und ein jeder tat seinen Sack auf.

Bereitwillig halfen sie, um diese letzte Unannehmlichkeit und erneuten Irrtum schnellstens aufzuklären.

1.Mose 44,12 und 13:
Und er suchte und fing an beim Ältesten bis hin zum Jüngsten. Da fand sich der Becher in Benjamins Sack.
Da zerrissen sie ihre Kleider, und ein jeder belud seinen Esel, und sie zogen wieder in die Stadt.

Zuerst hatten sie wohl noch fleißig beteuert, er brauche doch gar nicht erst weiter zu suchen, als er einige Säcke begutachtet hatte. Doch dann fand sich der Becher doch noch, und ausgerechnet im Sack des Jüngsten!! Hatte Benjamin etwa, ohne daß einer der anderen es bemerkt hatte ...? Nun waren sie gewaltig in Schwierigkeiten. In Ägypten waren ja eine Menge merkwürdiger Dinge passiert, aber nun dies mit Benjamin ?!? Ausgerechnet wegen ihm gerieten sie nun in einen schrecklichen Verdacht.

Zunächst zeigten sie schon an, daß sie das nicht nur einfach so abwiegeln wollten. Sie hätten ja auch aus eigensüchtigen Motiven auf Benjamin "verzichten" können, aber das kam ihnen doch nicht in den Sinn. Sie entschlossen sich, den Kleinen nicht im Stich zu lassen, und alle wieder in die Stadt zurückzukehren.

1.Mose 44,14-16:
Und Juda ging mit seinen Brüdern in Josefs Haus, denn er war noch dort. Und sie fielen vor ihm nieder auf die Erde.
Josef aber sprach zu ihnen: Wie habt ihr das tun können? Wußtet ihr nicht, daß ein solcher Mann, wie ich bin, wahrsagen
[geheimnisvolle Dinge in Erfahrung bringen] kann?
Juda sprach: Was sollen wir meinem Herrn sagen, oder wie sollen wir reden, und womit können wir uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden. Siehe, wir und der, bei dem der Becher gefunden ist, sind meines Herrn Sklaven.

Nun hatte Josef fast sein Ziel erreicht. Er wollte erreichen, daß die Brüder realisierten, was sie damals getan hatten, und er wollte einen Sinneswandel in ihnen herbeiführen. Nun steckte der zweite von Jakobs "Lieblingen" in der Patsche. Den ersten, Josef, den hatten sie damals mit Freuden versucht loszuwerden. Was würde nun geschehen, da der zweite von ihrem Vater Jakob so bevorzugte Sohn in Schwierigkeiten war? Wie würden sie sich jetzt verhalten? Würden sie den auch im Stich lassen und um ihre eigenen Interessen besorgt sein? Josef hatte diese Situation geschickt herbeigeführt, um sie vor eine solche Wahl zu stellen. Was würden sie nun machen?

Diesmal war es wiederum Juda, der das Wort ergriff. Er hatte sich ja auch als Bürge bei seinem Vater eingesetzt. Juda bekundete: "Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden." Er hatte erkannt, daß es nicht weiter darum ging, ihr Tun zu rechtfertigen, da ja Gott ihre frühere Missetat kannte. Juda verkündete, daß sie auf keinen Fall Benjamin alleine lassen würden, sondern lieber allesamt Sklaven sein wollten.

1.Mose 44,17:
Er aber sprach: Das sei ferne von mir, solches zu tun! Der, bei dem der Becher gefunden ist, soll mein Sklave sein; ihr aber zieht hinauf mit Frieden zu eurem Vater.

Josef wollte sich nicht "ungerecht" ihnen gegenüber zeigen, weshalb er darauf bestand, daß nur der eine Schuldige als Sklave bleiben sollte, den anderen aber sollte ihre Freiheit gehören.

Die Brüder konnten ja nicht wirklich wissen, ob Benjamin vielleicht den Becher tatsächlich gestohlen hatte. Er hätte ja in einem unbedachten Moment, als alle so fröhlich waren, vielleicht den Becher wirklich einstecken können. Sie waren wirklich in einer schwierigen Situation.

Dann trat Juda erneut vor ihn und erzählte ihm noch einige weitere Dinge, die anzeigen, wie sehr sich doch ihr Herz nun gewandelt hatte, denn Juda gesteht offen die üble Tat ein, wie sie sich damals an Josef versündigt hatten.

1.Mose 44,18-28:
Da trat Juda zu ihm und sprach: Mein Herr, laß deinen Knecht ein Wort reden vor den Ohren meines Herrn, und dein Zorn entbrenne nicht über deinen Knecht, denn du bist wie der Pharao.
Mein Herr fragte seine Knechte und sprach: Habt ihr noch einen Vater oder Bruder?
Da antworteten wir: Wir haben einen Vater, der ist alt, und einen jungen Knaben, in seinem Alter geboren, und sein Bruder ist tot, und er ist allein übriggeblieben von seiner Mutter, und sein Vater hat ihn lieb.
Da sprachst du zu deinen Knechten: Bringt ihn herab zu mir, ich will ihm Gnade erweisen.
Wir aber antworteten meinem Herrn: Der Knabe kann seinen Vater nicht verlassen; wenn er ihn verließe, würde der sterben.
Da sprachst du zu deinen Knechten: Wenn euer jüngster Bruder nicht mit euch herkommt, sollt ihr mein Angesicht nicht mehr sehen.
Da zogen wir hinauf zu deinem Knecht, meinem Vater, und sagten ihm meines Herrn Rede.
Da sprach unser Vater: Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide.
Wir aber sprachen: Wir können nicht hinabziehen; nur wenn unser jüngster Bruder mit uns ist, wollen wir hinabziehen; denn wir dürfen des Mannes Angesicht nicht sehen, wenn unser jüngster Bruder nicht mit uns ist.
Da sprach dein Knecht, mein Vater, zu uns: Ihr wißt, daß mir meine Frau zwei Söhne geboren hat;
einer ging von mir, und ich mußte mir sagen: Er ist zerrissen. Und ich hab ihn nicht gesehen bisher.

So erfuhr Josef nun, was sie damals ihrem Vater erzählt und wie sie sein Verschwinden erklärt hatten.

1.Mose 44,29-34:
Werdet ihr diesen auch von mir nehmen und widerfährt ihm ein Unfall, so werdet ihr meine grauen Haare mit Jammer hinunter zu den Toten bringen.
Nun, wenn ich heimkäme zu deinem Knecht, meinem Vater, und der Knabe wäre nicht mit uns, an dem er mit ganzer Seele hängt,
so wird's geschehen, daß er stirbt, wenn er sieht, daß der Knabe nicht da ist. So würden wir, deine Knechte, die grauen Haare deines Knechtes, unseres Vaters, mit Herzeleid hinunter zu den Toten bringen.
Denn ich, dein Knecht, bin Bürge geworden für den Knaben vor meinem Vater und sprach: Bringe ich ihn dir nicht wieder, so will ich mein Leben lang die Schuld tragen.
Darum laß deinen Knecht hier bleiben an des Knaben Statt als Sklaven meines Herrn und den Knaben mit seinen Brüdern hinaufziehen.
Denn wie soll ich hinaufziehen zu meinem Vater, wenn der Knabe nicht mit mir ist? Ich könnte den Jammer nicht sehen, der über meinen Vater kommen würde.

Judas Worte des Eintretens für seinen jüngsten Bruder waren wahrlich großartig, sie werfen bereits einen Schatten voraus auf den größten Sohn Judas, der für uns alle eingetreten ist und sein Leben gegeben hat als Lösegeld für viele.

Juda rückte heraus mit den Dingen, wie sie damals gewesen waren und er gestand ihre Schuld offen ein. Auch erkennt man, daß Jakob den Benjamin an Josefs Stelle gerückt hatte. Nun aber hatten die Brüder nicht mehr jene Einstellung wie gegenüber Josef, sondern sie hatten eine Lektion gelernt und waren willig, anders zu handeln. Als Josef die Sache auf die Spitze trieb und Benjamin behalten, die anderen aber gehen lassen wollte, da trat Juda auf und bekundete, daß solches für sie nicht in Frage käme. Josef wollte ja sehen, ob sie Benjamin im Stich lassen würden.

Juda bot an, statt des Knaben als Sklave zu bleiben, auch um des Vaters willen. Das Bitten und Eintreten Judas vor Josef war großartig und zeigte, welch großes Herz er mittlerweile hatte und welcher Wandel sich auch in all den anderen vollzogen hatte. Juda tat den ersten Schritt nach vorne, indem er sagte, es gäbe nichts mehr zu sagen außer einer Sache: "Gott hat die Missetat gefunden." Er bekundete sehr bestimmt, daß sie dieses Mal nicht wieder ihren Bruder im Stich lassen würden. Er war bereit, persönlich für seinen Bruder einzustehen.

Nach Judas eindringlichen Worten hatten sicher alle ihren Blick mit gespannten Erwartungen auf den Regenten Ägyptens gerichtet, der vor ihnen stand und in dessen Hand es nun lag, mit ihnen nach seinem Belieben zu verfahren. Was würde er wohl entscheiden?

 

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