Diese kleine Studie entstand auf Anregung in einer Mail, in welcher die Frage gestellt wurde, wie ich 1 Thess 4 ohne eine „Entrückung“ um 70 n. Chr. auslegen könne. Die Frage entstammt Überlegungen bzgl. des Verständnisses der biblischen Berichte über das „baldige“ Kommen des Herrn am „Ende des (damaligen) Äons“ und die Erfüllung dieses Gerichts in den Ereignissen der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70 n.Chr.

Die in christlichen Kreisen weit verbreitete Vorstellung ist, dass das Kommen des Herrn noch immer zukünftig ist, u.a. weil noch kein „Entrückung lebender Christen“ Ereignis stattgefunden habe. Eine solche „Entrückung von der Erde in den Himmel“ der lebenden Christen ist dabei dann eine Sache, die von der Gemeinde als echt freudiges Ereignis und wirklich gute Hoffnung gesehen wird, besonders von den Gruppen, die diese „Entrückung“ in ihrer Interpretation schön vor die Trübsal der letzten Tage legen und so vor diesen schlimmen Dingen bewahrt wären, weil die Gemeinde nicht mehr auf der Erde wäre sondern beim Herrn in Glanz und Gloria. Solche Ideen produzieren aber eine ganze Reihe von Widersprüchen zu biblischen Aussagen bzgl. verschiedener Aspekte, die eigentlich leicht verständlich sind und in vielen Belangen deutlich auf eine Erfüllung und das Kommen des Herrn im Gericht über das apostate biblische Volk Israel am Ende des AT Äons in 70 n. Chr. hindeuten.

Eine scheinbare Schwierigkeit dabei ist dabei die Frage, ob zu der Zeit eine Entrückung der damals lebenden Christen in den Himmel stattgefunden hat, und wie andererseits die christliche Gemeinde selbst ca. 2000 Jahre später heute ja immer noch auf Erden existiert. Die Vertreter der Ansicht, das Kommen des Herrn und die Entrückung seien noch immer in der Zukunft, sind dann schnell bei der Hand und erklären, dies beweise, dass Jesus noch nicht gekommen sei.

Nur, ist dies wirklich ein Beweis? Eigentlich „beweist“ ein solches Argument nur, dass dabei eine Idee als Maßstab genommen wird, um die Bibelaussage anhand der Idee zu beurteilen! So sollte es aber NICHT sein, stattdessen sollte bei Verständnisproblemen oder -fragen, der biblische Text näher untersucht und jede Idee, ganz gleich von wem und inklusive des eigenen bisherigen Verständnisses, anhand des Textes geprüft und beurteilt werden.

Bei dem Thema „Entrückung“ geht es um einen Ausdruck in 1. Thessalonicher 4,17.

1 Thess 4,17
Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft. Und so werden wir beim Herrn sein allezeit.

Es wird behauptet, dieser Vers rede von diesem einmaligen und einzelnen Ereignis der „Entrückung in den Himmel“ der beim Kommen des Herrn lebenden Gläubigen. Wo aber spricht der Text von „Entrückung“ als einmaligem einzelnen Ereignis? Wir wollen zunächst den unmittelbaren Kontext dieser Aussage einbeziehen und den Text möglichst objektiv sprechen lassen.

1 Thess 4,13-14
Wir wollen euch aber, Brüder und Schwestern, nicht im Ungewissen lassen über die, die da schlafen, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben.
Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm führen.

Paulus greift eine Frage auf, die in Thessalonich unter den Gläubigen nach seiner Weiterreise aufgekommen war und die er nun in diesem Brief beantworten will, damit die Gemeinde dort nicht weiter in Unkenntnis sein würde. Die Frage betraf „die, die da schlafen“, wobei die direkt anschließenden Aussagen (vgl. „nicht traurig seid“ usw.) deutlich machen, dass hier nicht im buchstäblichen Sinne müde und sich gerade ausruhende schlafende lebende Personen gemeint sind, sondern das Wort „schlafen“ mittels der Redefigur Euphemismus „tot‚ entschlafen, verstorben“ bedeutet.

Die Gemeinde war besorgt um die Gläubigen, die bereits verstorben waren oder noch vor dem in Kürze und noch zu Lebzeiten einiger Gläubigen erwarteten Kommen Christi sterben würden. Was würde mit denen sein? Würden diese eventuell gegenüber den beim Kommen des Herrn noch lebenden Gläubigen einen Nachteil haben? Würden die beim Kommen des Herrn lebenden Christen einen Vorteil haben oder bevorzugt werden?

In Vers 14 stellt Paulus grundlegend dar, dass darüber keine Besorgnis notwendig ist, da die Auferstehung der Verstorbenen doch in der Auferstehung Jesu bereits erwiesen ist und Gott ja nicht die verstorbenen Nachfolger Jesu, die an den Herrn Jesus Gläubigen, zurücklassen wird.

1 Thess 4,15
Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrig bleiben bis zum Kommen des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.

Paulus bestärkt nun zunächst, dass dies nicht seine Idee oder sein Wunschdenken ist, sondern „Wort des Herrn“. Konkret und kurz gefasst ist das die Botschaft: „Die beim Kommen des Herrn leben, haben keinen Vorteil gegenüber den dann schon Verstorbenen!“

Die gewählte Übersetzung „zuvorkommen“ lenkt leider für die meisten Leser deren Denken direkt auf einen „zeitlichen“ Inhalt, etwa als ginge es hier um die Frage der zeitlichen Abfolge („zuerst und danach“). Darauf richtete sich aber doch die Besorgnis der Gläubigen gar nicht, auf die Paulus hier eingeht. Deren Befürchtung drehte sich vielmehr darum, ob eine Gruppe einen „Vor-“ oder einen „Nachteil“ haben würde. Laut Wörterbuch (z.B. Kassühlke, Wörterbuch zum NT) bedeutet das gr. Wort φθάνω „kommen, hingelangen, erreichen; zuvorkommen, voraussein“, wobei für diesen Kontext hier z.B. „voraussein“ (im qualitativen Sinn) geeignet wäre.

Nun folgen Ausführungen zu dem, was sich beim Kommen des Herrn ereignen wird.

1 Thess 4,16
Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Ruf ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und die Toten werden in Christus auferstehen zuerst.

Zunächst sollte man beachten, dass diese Beschreibungen mit „Ruf“, „Stimme des Erzengels“, Posaune Gottes erschallen“, „herabkommen vom Himmel“ u.ä. nicht eine buchstäblich wörtlich gemeinte einfache Beschreibung oder Dokumentation sind. Es gibt keinen Ruf, und es gibt auch keine Stimme, die auch nur annähernd laut genug wäre, über kosmische Entfernungen gehört zu werden, usw. Was also liegt hier vor?

Die Beschreibung dieses Geschehens nutzt die Redefigur Allegorie, und hier werden mehrere Details in Form von Vergleichen mit buchstäblichen Ereignissen herangezogen, um das Geschehen dem Leser mit großer Betonung „sprachbildlich“ zu vermitteln. Bei öffentlichen oder militärischen Anlässen etwa erfolgte ein Ruf zum Versammeln, ein Befehl des Anführers mit Instruktionen folgte, eine Posaune blies als Signal zum Abmarsch oder Angriff, usw. Solche Details sind hier einzeln als Metapher (Repräsentation) bzw. Hypokatastasis (Unterstellung) aneinandergereiht und bilden als Ganzes zusammen mit den im nächsten Vers erwähnten Details eine Allegorie, mittels der das Geschehen besondere Betonung erfährt.

Im Ablauf der Details folgt dann die Auferstehung der Toten, wobei im Kontext der Beantwortung der Frage der Thessalonicher hier nur auf die an Christus gläubigen Verstorbenen Bezug genommen wird.

(Andere Schriftstellen bzgl. der Auferstehung der Toten beim Kommen Christi am Ende des Äons machen deutlich, dass dies insgesamt ein einzelnes Ereignis war, alle Toten im Totenreich wurden auferweckt und für die Gerechten war es eine Auferstehung zu ewigem Leben, für die Ungerechten eine Auferstehung zum Gericht und ewigem Tod.)

Die Auferstehung und Erlangung ewigen Lebens der Entschlafenen war „zuerst“ gegenüber dem, was mit den noch lebenden an Christus Gläubigen bzgl. der Erlangung ewigen Lebens geschehen würde. Details dazu greift Paulus nun anschließend auf.

1 Thess 4,17
Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft. Und so werden wir beim Herrn sein allezeit.

„Danach“ (nach dieser erwähnten Auferstehung der Entschlafenen) folgt, was mit den dann lebenden gläubigen Christen geschehen wird. Es ist klar, dass nach der Auferstehung am jüngsten Tag am Ende des (AT) Äons und der dabei erfolgten Vernichtung von Tod und Hades (Totenreich), die dann und später lebenden Personen, die danach versterben, ja nicht mehr ins Totenreich gehen können, um dort auf eine Auferstehung zu warten, weil es dann kein Totenreich (Hades) mehr gibt. Was aber geschieht mit diesen Christen?

Hier nun kommt die Aussage zur „Entrückung“ ins Bild. Dieses Geschehen kommt aber erst zum Tragen nach einer anderen Sache, die hier im Gedankengang ausgelassen wurde, aber impliziert ist, dass nämlich auch die dann und später lebenden Gläubigen erst eine Verwandlung von „sterblich zu unsterblich, etc.“ erfahren müssen, denn „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben“ usw. (vgl. z.B. 1Kor 15,20ff).

Mit Berücksichtigung dieser Verwandlung lesen wir nun über die damals noch nicht verstorbenen Gläubigen: „die wir leben und übrig bleiben“. Zwei erwähnte Begriffe bzgl. dieser Gruppe müssen hier beachtet werden: „zugleich mit“ und „entrückt werden auf den Wolken…“

Die Übersetzung als „zugleich mit“ erweckt stark den Eindruck eines zeitlichen Aspekts, so als handele es sich um etwas, was „gleichzeitig“ geschieht. Genau das aber ist nicht der Fall! Die damals noch lebenden Christen, wie auch alle seither lebenden Christen erfahren eben diese Verwandlung erst mit dem Ende ihres irdischen Lebens in einem „Fleisch und Blut“ Leib, welche in einem Augenblick (einem „Wimpernschlag“) erfolgt, eben im Augenblick des Endes des irdischen Lebens. Der Ausdruck „entrückt werden auf den Wolken“ ist Teil der erwähnten Allegorie, wobei mit diesen Worten die Aufnahme in Gottes Gegenwart betont geschildert wird. Genau so, wie kein Ruf, keine Stimme, keine Posaune buchstäblich ertönt, so hebt auch kein Mensch á la Hollywood Filmchen buchstäblich vom Erdboden ab, um dann in den Wolken zu verschwinden.

Wir erinnern uns, worum es den Thessalonichern in ihrem Anliegen und Paulus in seinen Ausführungen hier ging: Nicht um die Klärung zeitlicher Details, sondern ob es Vor- oder Nachteile gäbe bzgl. bereits verstorbener oder noch lebender Gläubigen. Des Paulus Antwort zum Kernpunkt findet sich hier in genau diesem Punkt.

Das Wort für „zugleich mit“ (ἅμα) kann auch z.B. „gemeinsam“ bedeuten, wobei es gar nicht um einen zeitlichen Aspekt geht, sondern darum, dass mehreren etwas gemein ist, sie etwas gemeinsam haben, es also um eine sachliche Zusammengehörigkeit, um etwas gemeinsames geht (vgl. Wörterbuch von Bauer, W. (1988). K. Aland & B. Aland (Hrsg.))

Hier ist die Antwort mittels Wort des Herrn: Beide, die bereits verstorbenen und die noch lebenden Gläubigen würden gemeinsam ewiges Leben in Gottes Gegenwart haben! Keiner wäre besser oder schlechter dran. Die wichtigere Aufgabe für die Gläubigen war, weiterhin treu dem Messias Jesus und seiner Lehre zu folgen und so Gott wohlgefällig zu leben.

 

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