Einleitung

Relativ häufig erwähnen Vertreter der Trinitätslehre, dass Jesus "Gott im Fleisch" sei, oder "Gott offenbart im Fleisch", oder sie reden vom "Mensch gewordenen Gott". All solche Ideen klingen vielleicht für trinitarisch geschulte Ohren einleuchtend, sie stehen aber nüchtern betrachtet in krassem Widerspruch zu dem, was uns die Bibel insgesamt über Gott berichtet.

Ein Vers, der oft zur Stützung dieser Ideen herhalten muß, ist eine Aussage im 1. Brief des Apostels Paulus an Timotheus.

1. Timotheus 3,16 (Lutherbibel 1984)
Und groß ist, wie jedermann bekennen muß, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Das ist der Wortlaut in der Lutherbibel, und es erscheint auf den ersten Blick fast merkwürdig, warum ausgerechnet dieser Vers beweisen soll, dass Jesus der "im Fleisch offenbarte Gott" sei. Wenn wir einen Blick auf die Ausgabe der Lutherbibel von 1912 werfen und uns den Vers dort betrachten, wird schon klarer, warum man sich auf diesen Vers stützt.

1. Timotheus 3,16 (Lutherbibel 1912)
Und kündlich groß ist das gottselige Geheimnis: Gott ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt von der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

In dieser Ausgabe findet sich ein anderer Wortlaut: "GOTT ist offenbart im Fleisch ..." Die neuere Lutherfassung hat stattdessen: "ER ist offenbart im Fleisch ..." Es ist schon ein großer Unterschied, ob der Text "Gott" oder "Er" lautet. Es stellt sich nun die Frage, warum hier solch unterschiedliche Übersetzungen dieser Stelle vorliegen. Eine Antwort auf diese Frage bringt uns vermutlich auch zur Antwort darauf, ob überhaupt und falls ja, welche der hier erwähnten Fassungen des Textes der ursprüngliche Wortlaut gewesen sein kann.

Das Problem: Textvarianten in Handschriften

Wenn solch unterschiedliche Wortlaute vorliegen, ist die Ursache meist darin zu suchen, dass ein Wort oder Ausdruck einfach unterschiedlich übersetzt wurde, oder aber der Grund für den Unterschied liegt darin, dass ein unterschiedlicher Wortlaut aus einer anderen Quelle (Handschrift) als Vorlage für die Übersetzung diente. Letzteres ist hier der Fall. Wie ein Vergleich der vorhandenen Quellen bzw. Handschriften zeigt, gibt es für 1. Timotheus 3,16 unterschiedliche Lesarten, unterschiedlichen Wortlaut, was diesen Ausdruck angeht. Um nun zu bestimmen, welche der Lesarten vermutlich ursprünglich ist, muss man die Handschriften abwägen und sehen, welche z.B. älter sind bzw. welche insgesamt als näher am Original einzustufen sind.

Was die Situation mit 1. Timotheus 3,16 betrifft, ist sicherlich auch zu beachten, ob und wie dieser Vers während der aufkommenden Kontroversen bzgl. der Einführung der Trinitätslehre ins Christentum in den frühen Jahrhunderten n.Chr. als Argument benutzt wurde. Es wäre als sicher anzunehmen, dass der Text mit einem Wortlaut wie "Gott ist offenbart im Fleisch" in vorderster Reihe der Belegstellen für das Argument der Trinitarier angeführt worden wäre. Welch besseres Argument könnte man für diese Idee haben als einen Vers, der genau das aussagt? Interessanterweise aber wurde dieser Vers, wie sich aus den erhaltenen Dokumenten ergibt, anscheinend überhaupt nicht als Belegstelle für die trinitarische Position benutzt. Als sich die Kontroverse bzgl. der Person Jesu und der Christologien im 4. Jahrhundert n.Chr. entwickelte und die gegensätzlichen Positionen auf den Konzilien erwägt und verhandelt wurden, erwähnte niemand den Vers in 1. Timotheus 3,16 als Beleg dafür, dass Gott im Fleisch offenbart sei. Warum? Weil der Wortlaut "Gott ist offenbart im Fleisch" zu jener Zeit offensichtlich nicht in den vorhandenen Handschriften der Paulusbriefe zu finden war! Wäre dieser Wortlaut vorhanden gewesen, so hätte sicher jemand den Vers als Beweis für die "Menschwerdung" bzw. "Fleischwerdung Gottes" angeführt.

Fakt ist, der Vers taucht nirgends in den erhaltenen Dokumenten der vielen Debatten auf und wurde ganz offensichtlich nicht als Argument benutzt, um zu zeigen, dass Christus gleich Gott sei. Die frühen Handschriften enthalten das Wort "Gott" nicht an der Stelle im Text, sondern vielmehr das Wort "der" bzw. "das" (welcher / welches). Der Wortlaut mit "Gott ist offenbart im Fleisch" taucht erst in Handschriften auf, die alle aus der Zeit nach den Konzilien mit den Entscheidungen bzg. der Einführung der Trinitätslehre stammen.

In den neueren Bibelübersetzungen bzw. Revisionen ist dies erkennbar. Man ist grundsätzlich davon abgekommen, die Handschriften mit "Gott" als Vorlage für die Übersetzung bzw. Revision zu nehmen, und man hat nun die Handschriften mit "der, das" (er, es) sozusagen einstimmig als ursprünglichen und damit korrekten Wortlaut akzeptiert. Das bedeutet auch, dass man allgemein den späteren Wortlaut mit "Gott" als eine Abänderung des ursprünglichen Textes wertet, sei es als Fehler bei der Abschrift oder vielleicht auch als bewußte Fälschung des Textes, um so einen weiteren "Belegvers" zu erzeugen.

Details zu den handschriftlichen Lesarten

Für diese Stelle finden sich drei Lesarten in den vorhandenen Handschriften: das Wort ho ("das, es, was, welches"), das Wort hos ("der, er, wer, welcher") und theos ("Gott"). Von den wichtigeren Handschriften enthalten der "Codex Sinaiticus", "Codex Alexandrinus" und der "Codex Ephraemi" den Wortlaut "Der [er] ist offenbart im Fleisch", der "Codex Claramontanus" und aramäische Peschitta, die koptischen, Äthiopischen, Sahidischen Handschriften enthalten "Das [es] ist offenbart im Fleisch". Auch die gotische Übersetzung hat "Das [es] ist offenbart im Fleisch". Wie bereits erwähnt, findet sich keinerlei Zitat dieses Verses in den Schriften der Kirchenväter aus der Zeit des Arianischen Streits. Die ersten zwei Lesarten finden sich in frühen Handschriften, und nun muss man schauen, ob sich anhand weiterer Überlegungen bestimmen lässt, welches der Wörter vermutlich das originale von Paulus benutzte Wort ist.

Gelehrte und Forscher haben eigentlich eine recht gute Erklärung, wie es zu diesen Unterschieden gekommen sein kann. Schon recht früh wurde von den Abschreibern der Handschriften beim Anfertigen von Kopien routinemäßig eine zusammengezogene Form für das griechische Wort für "Gott" (theos) benutzt, auch als nomina sacra bezeichnet. Das griechische Wort für "Gott" ist das Wort qeoV bzw. QEOS. Das Kürzel dafür war dann entsprechend qV bzw. QS, wobei ein kleiner Strich über dem Kürzel angebracht wurde. Sehr oft verbleichten diese kleinen Unter- oder Durchstriche in den Abschriften.

Nun sollten wir beachten, dass das griechische Wort für "wer, er, der" das Wort hos ist, im Griechischen geschrieben als oV bzw. OS. Wie man erkennen kann, sind die zwei Wörter QS und OS einander sehr ähnlich, was bei einer handschriftlichen Kopie noch mehr der Fall war als bei einer klaren Computerschrift hier. Der Buchstabe Omicron (O) und Theta (Q sind bis auf den kleinen Strich quasi identisch, weshalb beim Abschreiben einer Handschrift durchaus dem Abschreiber leicht ein Fehler bzgl. des kleinen Strichs unterlaufen kann und so ein anderes Wort in den Text gelangt. Andererseits ist es auch ein Leichtes für einen Abschreiber, gezielt mit einem kleinen Strich den Text vom Omicron (O) in ein Theta (Q abzuändern, wobei er vielleicht sogar der Meinung war, den Text damit "zu korrigieren". Ähnlich leicht wäre es, das Wort ho durch hinzufügen eines Strichs und eines "s" am Ende in theos abzuändern. Wenn man überlegt, dass eine Änderung in umgekehrter Richtung (Entfernen des Strichs, usw.) wesentlich leichter entdeckt werden konnte, so ist zu vermuten, dass die textliche Änderung auf die hier beschriebene Art und Weise geschah, wobei man nicht sagen kann, ob es lediglich ein Fehler beim Abschreiben war oder es sich um eine bewußte Abänderung (Fälschung) des Textes handelte.

Inhaltliche Überlegungen

Neben den rein textlichen Fakten und den dadurch angeregten Überlegungen muss man inhaltliche Überlegungen anstellen, um zu sehen, welche Argumente für welche Lesart vorhanden sind. Solch inhaltlichen Punkte haben u.a. mit der gemachten Aussage, den benutzten Wörtern, der Grammatik, u.ä. zu tun. Wenn man die vorhandenen Details erwägt, ergibt sich ein klares Bild dessen, was der Autor ursprünglich gesagt und ausgedrückt hat.

In dem Vers wird zunächst eine Aussage gemacht bzgl. "Geheimnis des Glaubens", und "Geheimnis des Glaubens" ist, worum es überhaupt geht. Außerdem müssen wir noch beachten, dass auch bzgl. des Wortes "Glaubens" unterschiedliche Lesarten vorliegen, und manche Handschriften hier nicht das Wort für "Glauben" sondern für "Gottseligkeit" haben, welches in der Luther 1912 Fassung als "gottselige Geheimnis" übersetzt wurde, aber eigentlich besser "Geheimnis der Gottseligkeit" lauten sollte, wie es auch in anderen Bibelübersetzungen übersetzt wurde. Es geht eigentlich um dieses Geheimnis, und es werden Aussagen bzgl. dieses Geheimnisses gemacht.

Wenn nun der Gedanke mit "Gott ist offenbart im Fleisch" fortgesetzt wird, so entsteht eigentlich ein Bruch im Gedankengang, denn dann ist nicht mehr weiter von diesem "Geheimnis" die Rede, sondern von "Gott". Wenn aber die Lesart "das (welches)" korrekt ist, dann wird der Gedankengang unmittelbar fortgesetzt: "Groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit, das offenbart ist im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, ..." Die Lesart mit "das (welches)" ist wesentlich weicher und fließt harmonisch im Kontext der gesamten Stelle.

Ein wesentlicher Punkt der Offenbarung, die Paulus zuteil wurde und die er verkündete, war das "Geheimnis" des göttlichen Willens, den Gott in Christus vollendet hatte, und welches er durch Offenbarung Paulus kundgetan hatte, welches Paulus nun predigte. Dieses Geheimnis hatte unmittelbar mit der Person Jesus Christus zu tun und beinhaltete, was Christus als der von Gott gesandte Messias und Erlöser vollbrachte. Dieses Geheimnis war in der Tat "offenbart im Fleisch", denn Christus ist ja die Offenbarung (Manifestation) dieses Geheimnisses, welches zuvor nicht kundgetan worden war.

Manche argumentieren, dass das an dieser Stelle das männliche Relativpronomen hos ("der, er, welcher") steht und es sich somit nicht auf das davorstehende sächliche Substantiv "Geheimnis" beziehen kann. Allerdings ist diese Argumentation so nicht eindeutig, denn wir können auch an anderen Stellen mit ähnlichem Zusammenhang sehen, dass Paulus sehr wohl das Pronomen hos mit Bezug auf das Wort "Geheimnis" verwendet hat, wie etwa in Kolosser 1,27, wo der Text lautet: "... der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses unter den Heiden ist, nämlich (wörtlich: "welches [hos - "welcher"] ist") Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit." Auch hier hat Paulus das männliche Pronomen hos mit Bezug auf das sächliche Substantiv "Geheimnis" benutzt. Es ist wahrscheinlich, dass diese Konstruktion auch in 1. Timotheus 3,16 stand, wobei dann die korrekte Übersetzung eine Fortführung des Satzes wie folgt hätte: "... Geheimnis der Gottseligkeit, welches ist offenbart im Fleisch, ..."

Die Benutzung des Pronomens mit einem - rein grammatikalisch betrachtet - "falschen" Geschlecht ist eine Redefigur mit der, entgegen der normalen grammatikalischen Form, eine logische Beziehung der betroffenen Begriffe hergestellt wird. Wir sehen das auch an anderen Stellen, etwa in Johannes 15 & 16, wo häufig das Pronomen "er" für das Substantiv "Geist" benutzt wird ... Trinitarier machen dann in den Abschnitten aus "Geist" eine "(männliche) Person", gehen dann aber in 1. Timotheus bei dem Wort "Geheimnis" nicht so vor, sondern beenden den ersten Satz und beginnen dann einen neuen mit einem völlig anderen Subjekt, "Gott [ER]".

Vom Text und der inhaltlichen Aussage in dieser Stelle wie auch an anderen Stellen in den Briefen des Paulus würde ich sagen, dass Paulus mit der Benutzung des Pronomens hos ("der, er, welcher") eine logische Beziehung zu "Geheimnis" herstellt, denn in diesem Geheimnis geht es um eine Person, nämlich den Herrn Jesus Christus, nicht aber um einen Mensch gewordenen Gott.

Schlussfolgerung

Aus den dargelegten Fakten bzgl. der Stelle in 1. Timotheus 3,16 ergibt sich folgendes: Das Wort "Gott" stand ganz offensichtlich in keiner der frühen Handschriften und tauchte erst durch eine spätere Abänderung des Wortlauts in späteren Handschriften nach dem 5. Jahrhundert n.Chr. auf. Christus ist der Inhalt des erwähnten "Geheimnisses der Gottseligkeit", um welches es hier geht, und der ursprüngliche Wortlaut des Textes hatte demnach: "Und groß ist, wie jedermann bekennen muß, das Geheimnis des Glaubens, das [der] offenbart ist im Fleisch, gerechtfertigt im Geist ... " Diese Lesart steht in Einklang mit dem Rest der Schrift und nicht in Widerspruch zu vielen anderen Stellen, wie es bei der Aussage "Gott ist offenbart im Fleisch ..." der Fall wäre.

Übersicht Artikel